Überforderung mit dem ersten Kind – retrospektiv

Seit August 2023 bin ich selbst Mama und habe mich in deinen Worten, dass eure zwei Kleinen euch nicht in Dauerstress und Ausnahmezustand versetzen wie der Große, sofort wieder gefunden. Ich dachte mir, doch genau so geht es mir gerade.

Darf ich fragen wie es dir ging beim ersten Kind?
Ich bin leider oft ziemlich überfordert, habe wenig Unterstützung von der Familie (außer dem Papa) aber trotzdem bin ich ständig unter Stress und kann die Elternzeit irgendwie nicht so richtig genießen..

Habe mir schon verschiedene Hilfe gesucht, aber irgendwie steh ich am Ende doch allein da und fühle mich hilflos.

Es würde mich freuen, wenn du Zeit finden würdest mir bissl von deinen Erfahrungen beim ersten Kind zu berichten.

Diese Nachricht kam als Reaktion auf meinen letzten Artikel, in dem ich erwähnte, dass Nr. 2 und Nr. 3 ein ganz anderes Temperament hatten, als der Erste, und uns nicht in Dauerstress und ununterbrochenen Ausnahmezustand versetzten. 

Ich weiß, dass einige schon lange mitlesen. Die werden sich vielleicht erinnern. Für alle anderen, hier nochmal retrospektiv zusammengefasst. 

Das erste Kind – Vorstellung vs. Realität

Ich weiß noch, wie ich mir als Kinderlose und dann als Schwangere vorgestellt habe, wie es als Mama sein würde. Ich dachte, wir könnten ein normales Leben leben, nur eben mit vielen Windeln und vorübergehend ein bisschen weniger Schlaf. Tagsüber würde mein Mann arbeiten und ich mit dem Kinderwagen losziehen zum nahegelegenen See. Während das Baby schläft, würde ich glücklich einen Cappuccino schlürfen und ein Buch lesen. Ein Buch lesen. Während ich das schreibe, schnaufe ich verächtlich über mich selbst. Ein Buch. Lesen. Mit Baby. 

Denn dann kam die Realität. Das Ende der Schwangerschaft, die gut und unauffällig verlaufen war. Schwer war die Geburt. Und schwer war alles, was danach kam. Denn nicht nur hätte ich nie und nimmer ein Buch lesen können. Das Kind wollte nicht einmal in den Kinderwagen. Oder irgendwo anders liegen. Schon während der Abwärtsbewegung beim Versuch, ihn abzulegen, brüllte er los. Mal kurz stressfrei Pinkeln? Fehlanzeige. Autofahren? Der reinste Horror. Länger als 30 Minuten am Stück schlafen? Für viele Monate unmöglich. 

Die ersten 6 Monate musste ich den Kleinen eigentlich ununterbrochen im Tuch am Körper tragen oder stillen. Schlafen im Bett war nur drin, nachdem er ewig genuckelt hatte und ich dann wie ein C um ihn gewickelt schlief und mich niemals zu bewegen gedachte. Maximaler Hautkontakt, möglichst keine Geräusche oder Bewegungen. Trotzdem wachte er meist nach 30 Minuten wieder auf und wollte stillen. Mal eben an den Papa abgeben war auch selten drin, denn den akzeptierte er auch nur widerwillig. 

Wir waren damals in einer 3-Zimmer-Wohnung in Berlin und als der Kleine 1 Jahr alt war, sah unser Alltag so aus: Ich versuchte, die 9-10 Stunden, die mein Mann arbeiten war, irgendwie zu überleben. Richtig ausgeschlafen oder fit war ich eigentlich nie. Was den Alltag ein bisschen erträglicher machte, war eine Gruppe aus insgesamt 4 müden Erst-Mamas, von denen nur eine ein Kind hatte, wie ich es mir damals vorgestellt hatte. Wir trafen uns fast täglich und saßen wortkarg nebeneinander, während die Kinder auf dem Spielplatz oder im Spielcafé spielten. Zuhause war es für jede von uns zu viel. Den ganzen Tag allein mit dem Kind. 

Abends, wenn mein Mann nach Hause kam, war ich durch. Ich drückte ihm das Baby in die Arme, wortlos und wütend. Denn ja, ich war wütend auf ihn. Auf wen auch sonst, es war ja niemand da, außer uns beiden und dem Baby. Und auf den Kleinen war ich schon oft genug tagsüber wütend. Weil er nie schlief, so anstrengend war und ich ihm den ganzen Tag hinterherlaufen musste. Denn mit 6 Monaten lernte er krabbeln. Dann ging es gut ohne Trage, dafür gab es keinen Stillstand mehr. Mit 10 Monaten lief er und ich hinterher. Er war viele Jahre ein überaktives, neugieriges und experimentierfreudiges Kind, das wenig Schlaf brauchte, dafür viel Action. 

Am Wochenende schliefen wir abwechselnd, je nachdem, wer am fertigsten war. Paarzeit? Nee. Familienzeit? Auch eher nicht, jeder von uns brauchte jede denkbare Minute, um irgendwie allein klarzukommen. Mal 30 Minuten kein Kind. Wenigstens eine kurze Auszeit. 

Denn der Rest, die ersten Jahre mit Kind, waren wie ein Stress-Marathon, der täglich in dem Moment von Neuem anfängt, in dem er vom Vortag zu Ende ging. Ein Kreislauf aus Schlafmangel, schlechter Laune und unerfüllten Bedürfnissen. Und wir sprechen hier nicht von Bedürfnissen wie in Ruhe mit einer Freundin quatschen oder dem Hobby nachgehen. Wir sprechen von Grundbedürfnissen wie Schlafen, Duschen oder ohne jemanden auf dem Schoß den Po abwischen. 

Unser Ausweg: Raus aus dem Rad

Der Rubbelbatz war gerade 1 geworden, als wir zu reden begannen. Vor allem ich äußerte deutlich, dass ich mir das Leben als Familie so nicht vorgestellt hatte. Dass mich das auf Dauer kaputt machen wird. Es musste eine Lösung her. Die Kurzversion: Wir arbeiteten an meiner Selbstständigkeit, bis der Kleine etwa 2,5 Jahre alt war. Um die Zeit dazu zu haben, war er bis zum 2. Geburtstag (insgesamt 10 Monate) in einer Coworking-Kita in Berlin. Wir lösten in dieser Zeit die Wohnung auf, verkauften und verschenkten fast alles, was wir hatten. Ich kündigte nach der Elternzeit (mit 3 Jahren) meinen Job. Der Mann ebenfalls. Zum 2. Geburtstag zogen wir zu meinen Eltern aufs Land nach Bayern. Wo wir heute wieder gelandet sind. Arbeiteten weiter an einem ortsunabhängigen Einkommen mit meiner Selbstständigkeit. 

Als wir 2018 nach Bali aufbrachen, hatten wir noch eine große Box mit Erinnerungen und Babykleidung bei meinen Eltern und einen 100-Liter-Wanderrucksack plus Handgepäck. Ein Einkommen von etwa 1500€ pro Monat (vor Steuer). Viel Freiheit. Viel mehr Leichtigkeit. Zeit. Familie. Kein Plan. 

6 Monate später war mein Leben mit Kind und Familie so schön und entspannt wie nie. Der Rubbelbatz war gerade 3 Jahre alt geworden. Wir konnten uns vorstellen, ein zweites Kind zu bekommen. Wir rechneten damit, dass es wieder genauso laufen würde, wie beim ersten Mal und bevor wir das nicht ein zweites Mal hätten leisten können (und wollen), hätten wir kein zweites Kind geplant. 

Es klappte auf Anhieb. 

Das Gefühl bleibt

Der Stress hatte also irgendwann objektiv gesehen abgenommen. In uns drin aber blieb er noch lange. Jahre, würde ich sagen. Erst als der Rubbelbatz 6 oder 7 Jahre alt war, fing mein Mann an, sich wirklich zu entspannen. Nicht in diesen Notfall-Stress-Modus zurückzufallen, sobald die Kinder ein wenig lauter wurden. 

Und das, obwohl unser zweites Baby wie ein Heilpflaster war für so viele Erfahrungen der ersten Babyzeit: Er schlief im Kinderwagen, nachts von Anfang an zwei Stunden am Stück. Ohne Hautkontakt oder Dauerstillen. Er war fröhlich und akzeptierte liebend gerne auch seinen Papa als Betreuungsperson. Genauso wie meine Eltern oder Freunde, die wir dann in Bayern täglich um uns hatten. Er war ein ruhiges und vorsichtiges Kind. Kooperativ weit über das, was wir erwartet oder erhofft hätten, auch als Kleinkind in der Trotzphase noch. 

Trotzdem war dieser Stresszustand vor allem beim Papa wie eingebrannt. Ein Trigger reichte, und das Gefühl war wieder da. 

Warum war es so stressig? 

Bis wir das zweite Baby hatten, habe ich mich das oft gefragt. Warum sieht das bei anderen so schön, so einfach aus? Warum fühlt sich unser Familienleben null so an, wie ich es mir gewünscht hätte? Wieso kann ich die Zeit nicht genießen, sondern bin einfach so oft gestresst, wütend oder teilnahmslos? Hatten die Leute vielleicht recht die sagten, man müsse das Kind besser „erziehen“, also mehr Grenzen setzen, strengere Regeln und Routinen? Schon bei Babys? Ist er so, weil wir so gestresst sind? „Entspannte Eltern, entspannte Kinder“ und so? 

Rückblickend kann ich sagen: Nichts davon. Dieses Kind hätte auch andere Eltern an ihre Grenzen gebracht. Die wahrscheinlich noch mehr als uns. Nichts, was wir getan oder nicht getan haben, hat dazu geführt, dass wir diese stressige Zeit hatten. Dass das so passiert ist lag zu 98% am Temperament unseres Babys. An dem, was er mitgebracht hat. Alles, was wir tun konnten, haben wir getan: Überleben. Überleben und so gut es geht auf uns und auf die kleine Kinderseele achten. Dass sie bei all den „Nein“s und „Leiser, bitte“s nicht unter die Räder kommt. Dass das Selbstbild unseres Kindes heute nicht ist: „Ich bin zu laut, zu wild, zu aktiv, zu anstrengend. Ich bin nicht richtig.“

Dass uns das gelungen ist, halte ich für einen unserer größten Erfolge als Eltern und dass das so kommt, war nicht immer abzusehen. 

Tipps?

Ich habe vor Jahren schon mal meine Überlebenstipps für Eltern mit hochaktiven Kindern zusammengeschrieben. Zusammengefasst würde ich heute sagen: Bitte mach dich frei von allem und jedem, was Dir ein schlechtes Gefühl über Dein Kind gibt. Denn das löst noch mehr Stress aus. Gestalte das Leben so, dass es für euch am einfachsten ist. Dass ihr als Eltern und das Kind in dieser so entscheidenden Entwicklungsphase des Selbstbildes möglichst wenig Schaden nehmt. Die Bedürfnisse der Großeltern, Nachbarn oder Menschen vor euch in der Supermarktkasse müssen jetzt eben mal hinten anstehen. Ihr seid gerade die schwächeren Glieder der Gesellschaft, nicht die. Warum muss ein kinderloser Mensch im Bus gestresst sein, wenn es Dein Kind ist, das schreit? Er kann aussteigen und nie wieder dran denken. Du bist dieser Situation tagtäglich ausgesetzt! 

Und wenn jemand denkt, es wäre Deine Schuld, dass Dein Kind mit 2, 3 oder 4 Jahren sich nicht „benehmen“ kann, oder die Deines Kindes, dann hat er echt ein Problem. Er hat ein Problem. Du musst keines haben, wenn Du Dich entscheidest, keines zu haben. 

Ansonsten kann ich nur jedem empfehlen, sich eine Gemeinschaft zu suchen. Gleichgesinnte. Du musst den Tag nicht allein mit Deinem Kind verbringen. Es gibt so viele da draußen, die sich genauso allein und überfordert fühlen. Wenn Du die Augen offen hältst, wirst Du sie finden – oder gefunden werden. Setz Dich in ein Spielcafé, auf den Spielplatz, geh in die Krabbelgruppe oder an den See und versuch, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Oder schalte eine Kleinanzeige, einen Post in einer Facebook-Gruppe oder was immer Dir einfällt. 

Und dann wirst Du sehen: Es gibt nicht nur online eine Mama wie mich, die ähnliche Erfahrungen macht oder gemacht hat, die Dich versteht, sondern auch im echten Leben. 

Damit geht der Stress nicht weg, aber wird einfacher zu ertragen. 

Denn eins kann ich versprechen: Es wird besser. Irgendwann!

1 Kommentar zu „Überforderung mit dem ersten Kind – retrospektiv“

  1. Der Beitrag hat mich sehr berührt, weil ich mich als Erst-Mama total wiedererkannt habe: Dieses Gefühl von ständiger Überforderung ist mir nur zu gut vertraut. Wirklich ermutigend finde ich, wie du im Rückblick zeigst, dass es mit den nächsten Kindern oft leichter wird und man selbst mehr Sicherheit gewinnt. Lg Berna

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