Eigentlich waren wir uns vor einem Monat einig gewesen, dass wir dieses Jahr zu Weihnachten den Ball flach halten werden, da der Rubbelbatz noch viel zu jung ist, um alles, was sich um ihn herum abspielt, auch wirklich verarbeiten zu können. Es fielen Sätze wie:
Wir brauchen jetzt keinen Baum! Aber nächstes Jahr, wenn der Kleine mehr mitbekommt!
Wir müssen dieses Jahr noch nicht so viel auf Tradition achten! Lieber nächstes Jahr, damit der Kleine auch vorgelebt bekommt, wie sich ein geborgenes Weihnachten anfühlen kann!
Die Vorsätze sind also da…für das nächste Jahr!
Das erste Weihnachten als glückliche kleine Familie
Als der Dezember dann die einstelligen Kalendertage verlassen hat, kam ihn mir der Wunsch auf, dass ich doch jetzt meine eigene kleine Familie habe und mit dieser auch ein schönes Fest feiern möchte. Mir schien, als wäre dies der eigentliche Kern des Weihnachtsfests. Es fühlte sich einfach richtig an und es fühlte sich schön an. Also gab ich mir einen Ruck, besorgte einen kleinen Weihnachtsbaum und stellte mich darauf ein, dass dieses Jahr Weihnachten das erste unserer Weihnachtsfeste sein wird. Unser Weihnachten mit Baby und als kleine Familie!
Meine Worte mögen bis hierher egozentrisch klingen, denn schließlich haben ich und meine Frau natürlich auch noch eine Familie, von der ich bisher noch kein Wort verloren habe. Das wird sich an dieser Stelle ändern.
Manchmal ist Familie kompliziert
Meinen Großvater habe ich das letzte Mal vor 1,5 Jahren gesehen. Und Ja, das ist eine lange Zeit, wenn man bedenkt, dass, seit ich wieder in Berlin wohne, wir keine 100km voneinander entfernt leben. Mein Opa war nach dem Tod meiner Oma vor 2,5 Jahren Witwer und plötzlich auf sich allein gestellt. Er war es nicht gewohnt, sich um seinen Haushalt zu kümmern und er hätte wohl auch gerne seine Familie in seiner Nähe gehabt. Wir lebten aber alle nicht in der gleichen Stadt.
In der Trauerphase luden wir ihn zu uns nach Regensburg ein. Er lehnte ab. Generell hatte er seine eigene Art mit der Trauer umzugehen. Unsere Hilfe hat er nur bedingt annehmen wollen. Er entschied sich dann dazu, jemand neues kennenzulernen und hatte auch Erfolg. Der Kontakt zu uns wurde wieder weniger und ging hin zu selten. Für uns wurde es nämlich gleichzeitig schwieriger an ihn heran zu kommen.
In “seine neue Familie” war er schnell integriert und fühlte sich dort auch gut aufgehoben. Ich akzeptierte, dass er gerne Zeit mit seiner neuen Lebensgefährtin und ihrer Familie verbracht hat. Das war sein gutes Recht. Hat man dann doch mal miteinander telefoniert, waren die Gespräche sehr kurz, leider. Auch als ich ihn darüber informierte, dass ich heiraten werde und er Urgroßvater wird, war seine Reaktion etwas verhalten. Im Sommer informierte ich ihn ebenfalls über die Geburt unseres Sohnes, seinen Urenkel, und er freute sich auch. Aber er fragte nie nach Fotos und kam auch nie vorbei, seinen Urenkel besuchen. Das machte mich natürlich etwas traurig, aber ich nahm es so hin wie es war und konzentrierte mich auf meine kleine Familie.
Eine Hiobsbotschaft kurz vor Weihnachten
Es muss ungefähr 1,5 Wochen vor Weihnachten gewesen sein, als ich einen Anruf von meiner Mutter bekam, mit der Nachricht, dass mein Opa schwer gestürzt ist und nun im Krankenhaus liegt. Der Sturz selbst war das Resultat seiner fortgeschrittenen Krankheit, die er uns monatelang verschwiegen hat. Im Sommer wurde bei ihm nämlich Krebs diagnostiziert. Die Krankheit, an der auch meine Oma vor 2,5 Jahren verstorben ist. Nach seiner Krebs-Diagnose im Sommer folgte eine OP und anschließend wurde noch eine Chemotherapie angeordnet. Seitdem hat er über 20kg abgenommen und rapide körperlich abgebaut.
Und wir wunderten uns noch, warum er seit der Geburt des Rubbelbatz’ nicht mal persönlich vorbei kommen wollte? Seit wir von der Krebsdiagnose erfuhren, konnten wir das gefühlte Desinteresse zumindest einigermaßen einordnen und entschuldigen.
Als ich die Nachricht erstmal einigermaßen für mich verarbeitet hatte, rief ich ihn an und bekam einen unheimlichen Schreck, denn seine Stimme war sehr kraftlos und dünn. Die Krankheit hatte ihn wohl schon ziemlich unter Kontrolle. Wir sprachen miteinander und ich ahnte, dass es wohl sehr ernst um ihn bestellt war. Ich beschloss also spontan während des Telefonats, ihn zu fragen, ob er gerne seinen Urenkel sehen wolle? Er sagte ja und wir verabredeten uns für den darauffolgenden Vormittag.
Im Krankenhaus angekommen, wollte ich ins Zimmer meines Großvaters und musste feststellen, dass mein Bild von ihm vor 1,5 Jahren und der Mensch, den ich dort im Bett liegen sah, unmöglich die gleiche Person sein konnten. Ja, ich bekam innerlich einen Schreck! Der Krebs hatte aus ihm einen sehr, sehr schwachen Mann gemacht, der mit jeder Bewegung Schmerzen hatte und dessen Körper nicht mehr so richtig funktionieren wollte. Man merkte aber auch, dass er im Kopf noch recht fit geblieben ist. Ich hatte auch den Eindruck, dass er selber die Situation nicht akzeptieren wollte/konnte, dass es in den letzten 6 Monaten so schnell mit ihm bergab ging. Er war wortwörtlich gefangen in einem kaputten Körper. Und er litt darunter, dass er nichts mehr alleine tun konnte.
Den Rubbelbatz, seinen Urenkel, das erste Mal live sehen zu können, machte ihn wiederum überglücklich. Man konnte spüren, dass er sich wirklich darüber gefreut hat und noch mehr, als der Rubbelbatz ihm sofort ein Lächeln schenkte. Ich war froh um die Situation, denn das lenkte mich davon ab, dass mein Großvater vielleicht nicht mehr viel Zeit hat. Wir blieben noch ein bisschen bevor er sehr, sehr müde wurde.
Auf dem Heimweg dachte ich dann noch sehr viel darüber nach, wie ich mich wohl fühlen würde, wenn ich eines Tages so krank sein würde? Wer würde sich bei mir melden und mir helfen, meine letzten Tage noch erträglich zu machen und so weiter? Ich dachte viel darüber nach und mich machten viele Gedanken darüber persönlich sehr traurig, da es in unserer Familie durchaus auch Probleme gibt, die ein Miteinander schwierig gestalten. Deshalb stand für mich fest, dass ich die Wünsche meines Großvaters respektieren und mein möglichstes versuchen werde, dass er in Würde einschlafen kann.
Während der Arbeitswoche blieb mir nur der telefonische Kontakt. Auch wenn wir sonst meist nur zu Anlässen telefoniert hatten, wollte ich ihm jetzt nicht das Gefühl geben, allein zu sein und meldetet mich täglich bei ihm. Es fühlte sich einfach richtig an. Leider merkte man in den Telefonaten, dass es zunehmends schwieriger wurde, mit ihm zu reden. Dann kam die Info, dass er ins Hospiz verlegt wird und ich musste mich darauf einstellen, dass das Unvermeidbare bevorsteht.
Am darauffolgenden Wochenende besuchte ich ihn wieder. Diesmal im Hospiz. Eine Woche war vergangen und diese zeichnete sich natürlich in einem unheimlichem Ausmaße an meinem Großvater ab. Er schlief viel, wir redeten und er fragte viel nach den anderen Familienmitgliedern. Er fragte sogar, wo der Kleine und meine Frau jetzt grade hingegangen seien? Ich war irritiert, denn sie waren bei diesem Besuch nicht dabei. Für ihn allerdings schon! Ich merkte, dass ihm der Kleine wohl sehr wichtig war und wir schauten uns Videos vom Rubbelbatz an. Mein Opa freute sich selbst wie ein Kind, als er seinen Urenkel betrachten konnte. Das war die innigste und ehrlichste Freude, die ich wohl jemals bei ihm sehen konnte. Ich war so froh, dass er den Rubbelbatz eine Woche vorher noch persönlich erleben konnte. Gleichzeitig überlegte ich, den Kleinen beim nächsten Besuch mitzunehmen, um meinem Opa nochmal ein paar schöne Momente zu bescheren.
Am nächsten Tag rief ich vormittags im Hospiz an, um nach seiner Verfassung zu fragen und wurde gebeten, bitte schnell zu kommen, weil niemand weiß, wieviel Zeit noch bleibt. Den Rubbelbatz wollte ich aufgrund dessen also doch lieber zuhause lassen und machte mich gleich auf den Weg. Ich war innerlich sehr angespannt und habe mich darauf einstellen müssen, dass ich ihn in seinen letzten Minuten begleiten werde. Zum Glück habe ich gestern noch Bilder von allen Familienmitgliedern aufgehangen, Videos vom Rubbelbatz und meiner Schwester gezeigt und mit ihm zusammen in Erinnerungen geschwelgt.
Im Hospiz eingetroffen, setzte ich mich an sein Bett und blieb dort bis spät abends. Viel Besuch bekam er leider nicht und ich wollte auch nicht, dass er in seinen wachen Momenten alleine ist. Er suchte förmlich nach einem ihm vertrauten Gesicht, wenn er wach wurde. Er schaute rechts, er schaute links. Und sah mich dort sitzen. Er wirkte erleichtert und dankte es zumindest mit einem Kopfnicken und Grinsen. Als ich ging, hatte ich kein gutes Gefühl, aber zumindest das Gewissen, dass ich so lange da war, wie ich konnte.
Zuhause wartete meine eigene Familie auf mich und vermisste mich, da ich seit Tagen nicht nur körperlich, sondern auch mental abwesend war. Siebzig Kilometer entfernt erlebte mein Opa seine letzten Tage. Ich war hin und her gerissen. Schließlich war das doch auch mein erstes Weihnachten mit meiner Frau und unserem Baby, auf das ich mich schon sehr gefreut hatte. Und nun fiel es mir zu schwer, mich darauf einlassen zu können, weil mein Opa ja im Sterben lag.
Bei meinem Montagsbesuch war ich dann sehr erstaunt darüber, dass es ihm scheinbar wieder besser ging. Er trank sogar wieder und seine Stimme war kräftiger als die Tage zuvor. Aber er war nicht mehr in der Realität bzw. nur phasenweise. Er durchlebte einige Phasen und ich durfte ihn dabei begleiten. So und nicht anders habe ich die Aufgabe meiner Anwesenheit gesehen. Und er war dankbar dafür. Fast schon ungläubig, dass ich schon wieder da bin.
Oft war er nicht mehr wirklich ansprechbar. Sein Geist hat sich quasi darauf vorbereiten müssen, dass er bald Abschied nehmen muss. Ich würde diesen Zustand als etwas transzendentales beschreiben, wenn ich müsste. In diesen Phasen redete er zwar leise aber ich konnte wahrnehmen, dass er an verschiedene Orte seiner Vergangenheit gefahren ist. Ebenfalls in diesen Phasen stellte er direkt Rückfragen an mich, die ich ihm beantworten musste. Wir lachten sogar einmal gemeinsam!
Als mein Opa geschlafen hat, habe ich ihm die Erlaubnis erteilt, loslassen zu dürfen. Ich habe ihm erzählt, auf was er alles stolz sein kann und dass er jetzt endlich zu Oma kommt, die schon auf ihn wartet. Als er wach war, habe ich ihm das gleiche erzählt und es schien so, als wäre dies sehr wichtig gewesen für ihn zu hören. Er sah mich sogar an und versuchte, mich zu berühren, um sicherzugehen, dass das hier die Realität ist. Ich reichte ihm meine Hand und er hielt sie fest. Der Moment war hoffentlich nicht nur für mich wichtig gewesen, sondern auch für ihn.
Abends schlug dann seine Verfassung mehr und mehr um und es plagte ihn eine innere Unruhe. Er war wohl noch nicht soweit, suchte nach Antworten, die ich ihm nicht geben konnte und hatte Angst. Er bat eindringlich um meine Hilfe und wollte Aufstehen. Er war der Meinung, er geht jetzt wieder nachhause in seine Wohnung. Ich war überfordert, wusste nicht wie ich ihn daran hindern sollte, sich zu bewegen und holte das Hospiz-Personal zur Hilfe. Er bekam etwas zur Beruhigung und schlief ein. Ich fuhr nachhause.
Jeden Abend wuchsen meine Sorgen und die Frage, wie lange man eigentlich leiden muss, bevor man endlich erlöst wird. Ausschlaggebend dafür waren mehrere Situationen mit denen ich die Tage konfrontiert wurde und die mich auch an meine Grenzen brachten.
Am Dienstag fuhr ich wieder ins Hospiz und erhielt einen Anruf von der Einrichtung. Ich stand zu dem Zeitpunkt 30m vor dem Haus, unterbrach sofort die Stimme am Telefon und sagte nur, dass ich gleich da bin und wir persönlich reden könnten. Mir war aber jetzt schon klar gewesen, was ich gleich zu hören bekommen werde: “Herr Bose, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Ihr Großvater ist vor 25min eingeschlafen!”
Jetzt ist er also gekommen der Moment, der sich angebahnt hatte. Ich bekam nochmal die Gelegenheit von ihm Abschied zu nehmen und dachte vor allem daran, wie wichtig die letzten Tage waren. Gleichzeitig war ich aber auch erleichtert, dass er endlich seinen Frieden mit Respekt und Würde gefunden hat und froh darüber, dass ich ihn auf seinem letzten Weg noch so weit begleiten durfte. Immerhin ist der Moment des Sterbens, sein Moment.
Wie eine Geburt auch, so gehört der Tod mit zum Leben. Mich hat es viel über mich und meine Einstellung zum Leben und Familie gelehrt. Wenn ich einmal mein Leben gelebt habe, dann möchte ich keine Angst davor haben müssen, in diesem Moment alleine zu sein. Und ich glaube, dass der Weg, den ich mit meiner Frau und dem Rubbelbatz gehe, intuitiv der richtige ist und ich niemals diese Angst haben muss.
Schlaf gut Opa und sag Oma, dass ihr einen tollen Urenkel habt und wir sehr gut auf ihn aufpassen werden!
Ich sitz gerade hier und weine… ich hätte mir auch nichts mehr gewünscht als meine Großeltern vor ihrem Tod noch so intensiv begleiten und einiges aufarbeiten zu können… ein großes Geschenk… Ich glaube du hast ihn sehr glücklich gemacht und ihm einen guten Abschied geschenkt. Etwas Besseres kann keinem von uns passieren.
Danke Frida,
und tut mir wirklich leid zu hören, dass es dir nicht möglich gewesen ist.
Wenn sie dich aber von oben beobachten, dann sehen sie, dass du eine tolle Mutter bist und sind sicher auch stolz auf dich wie du die Familie weiterführst.
LG Rubbelpapa
Hallo,
mein herzlichstes Beileid zum Tod deines Opas.
Ich habe großen Respekt, dass du dich und deinen Stolz hinten an gestellt hast und schlichtweg das Richtige getan hast. Das ist absolut nicht einfach!
Ich bin ehrlich genug zu mir selbst und wüsste, dass ich das so nicht hin bekommen hätte.
Liebe Grüße Verena
Vielen lieben Dank Verena!
ich habe deinen Beitrag erst jetzt gefunden. In meiner Trauer suchte ich nach passenden Worten für die diesjährigen Weihnachtskarten……für Tante und Onkel……..
Ich verlor meinen Papa plötzlich am 11.11.2015 nach einer Kreuzfahrt. Wir kamen aus dem gemeinsamen Urlaub und er verstarb ganz plötzlich einen Tag später. Meine Mama und wir litten sehr unter den Verlust.
Am 11.11.2016 verstarb nun auch meine Mama. Obwohl sie sehr krank war (Brustkrebs und Herzinsuffuziens) holte ich sie nach Hause damit sie nicht alleine in ihren letzten Stunden ist.
Obwohl ich froh bin das wir in ihren letzten Stunden bei ihr waren, werde ich diese Bilder nicht mehr los.
Wird es besser nach einem Jahr ???? Kann man normal weiter Leben?
Hallo Karen,
es tut mir wirklich sehr leid, zu lesen, was die letzten Jahre bei dir passiert ist. Und ich gebe Dir recht! Du kannst wirkloich froh sein, dass du die letzten Momente mit deiner Mutter erleben konntest.
Was deine Frage betrifft, kann ich nur von mir ausgehen und sagen, JA, es wird definitiv besser. Genauso wie du, dachte auch ich daran, dass es eigentlich eine Ehre ist, wenn man die letzten Stunden bei sein kann. Immerhin ist das nicht unser Moment, sondern der Moment, den sich die Person aussucht, die von uns geht.
Bei mir waren die Bilder in der Trauerphase sehr präsent. Heute denke ich zwar wieder daran zurück, weil es nun fast 1 Jahr her ist, aber die Erinnerung ist eine gute.
Ich wünsche Dir jedenfalls ganz viel Kraft und sei stolz darauf, dass Du Dich um deine Mutter kümmern konntest. Das ist wohl das wertvollste, was Dir überhaupt möglich war.
Liebe Grüße