Ist der Mensch ein Nomade?

Mehr als zwei Monate sind wir nun schon auf Bali. Ehrlich gesagt hatte ich schon Bedenken, wie das mit unserem nun fast 3-jährigen Kleinkind werden würde. Ob wir ihm in seiner Entwicklung schaden, wenn wir ihm die gewohnte Umgebung und den stabilen Alltag nehmen. Mittlerweile denke ich anders darüber und frage mich manchmal, ob der Mensch nicht eigentlich immer noch ein Nomade ist.

Das stabile Umfeld

In diesem festen Glauben bin ich aufgewachsen: Kinder brauchen, vor allem in den ersten 2-3 Lebensjahren ein gleichbleibendes Zuhause, stabile Bezugspersonen, ein gewohntes Umfeld. Sie brauchen das, um ihr Grundvertrauen, ihr Urvertrauen, wie es so schön heißt, aufzubauen. Deshalb war ich froh, dass unser Sohn schon 2 Jahre alt war, als wir Berlin und die Wohnung in der er sein bisheriges Leben verbracht hatte, verließen. Immerhin würde ihn das doch völlig aus der Bahn werfen.

Doch mit dem Leben bei meinen Eltern auf dem Land wurde alles irgendwie besser, was ihn betraf. Er war grundzufrieden und entwickelte sich prächtig. Klar, dachte ich, das bringt das Großfamilien-Leben so mit sich. Immerhin hat er jetzt mehr Bezugspersonen als vorher, ein kindgerechteres Umfeld und viel Platz zum Austoben. Als wir neun Monate später Bayern verließen, dachte ich wieder: Jetzt wird er ausflippen. Das ist eine Zumutung für ein Kind, ihm schon wieder das gewohnte Umfeld zu nehmen.

Und wieder kam es anders. Auch hier auf Bali gewöhnte er sich wahnsinnig schnell an alles, vor allem an die Tatsache, dass wir eine Weile monatlich, teils sogar täglich einen anderen Ort unser Zuhause nannten. Wenn er jetzt ein schönes Haus mit Pool und Garten entdeckt, hören wir nicht selten “Hier möchte ich gerne wohnen!” Ich muss dann immer schmunzeln, denn seit einer Woche haben wir nun ein Zuhause hier auf Bali – zumindest bis zu unserer Ausreise im Oktober.

Gleichzeitig entwickelt er sich wahnsinnig schnell und positiv. Anstatt komplett durchzudrehen ob des fehlenden festen Zuhauses, lernt er momentan, umso ruhiger zu sein. Er ist abends ausgepowert und zufrieden über die vielen neuen Eindrücke und Erlebnisse. Er sucht sich an jedem Ort, an dem wir sind, seine persönlichen Lieblingsorte, seine Klettermöglichkeiten, Orte, an denen er Tiere beobachten kann oder mit Kindern sprechen.

Wenn wir, aus irgendeiner Notwendigkeit heraus, ein neues Ritual, einen neuen Ablauf oder eine neue Regel einführen, dann ist das eben so. Es scheint im nicht schwer zu fallen, solange wir es ihm erklären und andere Vorgänge dafür gewohnt bleiben.

Ist der Mensch ein Nomade?

Und dann hab ich mal nachgedacht. Über die ganze Artgerecht-Diskussion und die menschlichen Urinstinkte, die immer noch in der Steinzeit weilen. Denn bis vor 10.000 Jahren war der Mensch tatsächlich ein Nomade. Die ganze Menschheitsgeschichte hindurch! Die Stämme und Clans hausten in Zelten oder Höhlen und wechselten regelmäßig die Wohnstätte, um einen besseren Lebensraum zu finden. Theoretisch müssten die Grundbedürfnisse und Instinkte von Menschen und insbesondere von Kindern, denn in diesem Alter sind sie noch nicht überlagert von kultureller Prägung und Lernvorgängen, also noch den hundertausenden von Jahren vor der Sesshaftwerdung der Menschen entsprechen.

Bei anderen Themen, wie dem Alleine Schlafen oder dem Getragenwerden merkt man diese Instinkte ja noch ganz deutlich. Warum wird also in Sachen Wohnsitz genau das Gegenteil angenommen? Dass die letzten 10.000 Jahre hier so viel mehr Wirkung gezeigt haben, wie in der restlichen genetischen Veranlagung? Kann es nicht sein, dass Kinder und Babys für ein stabiles Umfeld gar keinen festen Wohnsitz brauchen, sondern vor allem feste Bezugspersonen und Abläufe?

Ich jedenfalls stelle fest, dass unser Kind da zufrieden ist, wo wir zufrieden sind. Die Betonung liegt auf zweiterem. Wenn wir uns in einer Unterkunft wohl fühlen, ausgeglichen und fröhlich sind (wie aktuell der Fall), dann ist er es auch. Er kann sich an all das Neue, Ungewohnte, wahnsinnig schnell einstellen, teilweise schneller als wir es tun. Er akzeptiert ohne Widerworte, dass bestimmte Dinge jetzt eben nicht mehr da sind. Weil sie unterkunftsspezifisch waren (z.B. ein Pool oder Hühner im Garten) oder weil sie landesspezifisch sind (Weißwurst oder Hafermilch zum Beispiel, da isst er jetzt halt Fleischspieße und Reismilch). Kein Problem, solange wir mit ihm sprechen und für ihn da sind, um Alternativen zu suchen.

Ich könnte mir vorstellen, dass er nochmal eine Ecke zufriedener ist, wenn wir im Dezember mit meinen Eltern und zwei meiner Brüder in einem Haus in Thailand wohnen. Wenn er also noch mehr geliebte Bezugspersonen um sich hat. In einem neuen Zuhause, dafür in einer gewohnten Atmosphäre.

Was denkst Du? Ist der Mensch ein Nomade? Hast Du ähnliche Erfahrungen gemacht?

3 Kommentare zu „Ist der Mensch ein Nomade?“

  1. Hey Hanna,

    Das ist eine interessante Frage!
    Die Idee, die mir dazu spontan kam: vielleicht ist die Idee, dass die Wohnsituation stabil sein muss, so ein Nachkriegs-Konstrukt? Und damit meine ich nicht nur die Zeit unmittelbar nach dem Krieg, sondern bis in die Zeit unserer eigenen Kindheit hinein. Weil aufgrund der ganzen Umbrüche, Traumen, etc. die Menschen / Eltern in sich emotional nicht so stabil waren, dass sie ihren Kindern dadurch Sicherheit geben konnten – deshalb kam vielleicht die Idee auf, dass wenigstens das Zuhause stabil sein müsste?

    Ich weiß nicht, ob das so verallgemeinerbar ist. Ich zumindest habe es so erlebt. Meine Eltern waren noch sehr stark geprägt vom Krieg: Flucht, aufwachsen phasenweise ohne Vater bzw. mit traumatisierten Eltern… Das hat sie sehr geprägt und diese Unsicherheit hat wiederum unser Familienleben geprägt.
    Wenn wir dann noch häufig umgezogen wären, hätten sie mir damit quasi die letzte Sicherheit genommen!

    Und da sind die Bedingungen doch heute ganz anders. Kinder, die bindungsorientiert aufwachsen, deren Emotionen ernst genommen werden und deren Eltern ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen – die erleben eine große innere Sicherheit, denke ich.

    Und mit dieser Sicherheit in sich kann man dann zum ursprünglichen Nomadenleben zurückkehren, ohne dass das Kind verunsichert ist.
    Das wär jetzt meine Theorie zu euren Erfahrungen…

    Liebe Grüße!
    Irene

    1. Hallo Irene,

      vielen Dank für diesen sinnvollen Input. Die Theorie klingt schon irgendwie stimmig. Einfachste Psychologie: Wer keine innere Sicherheit hat, braucht äußere.

      Viele Grüße,
      Hanna

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