Opa

Heute haben wir ein verspätetes Weihnachtsgeschenk von meinem Opa bekommen. Dasselbe wie jedes Jahr: 50€ für jedes Familienmitglied in einem schlichten, weißen Umschlag, vorne der Name mit Hand drauf geschrieben. Dazu Schokolade, diesmal Kinderschokolade und Yogurette. An sich nichts ungewöhnliches, bis auf die Tatsache, dass mein Opa seit 1,5 Wochen tot ist. 

Mein Opa wurde 88 Jahre alt. Bis kurz vor Weihnachten, also wirklich sein ganzes 88 Jahre langes Leben, hat er in seinem Haus an der Hauptstraße gewohnt. Eine 4-Zimmer-Wohnung, im Rest des Hauses haben immer schon andere Familienmitglieder oder Mieter gewohnt. Seit ich also denken kann – und auch schon lange, bevor es mich überhaupt gab, gab es diese Wohnung. Natürlich wurde sie instand gehalten und auch mal neue Möbel gekauft. Trotzdem sah sie immer ungefähr gleich aus. Dieselbe Küche, der Küchentisch mit Eckbank. Die Stifte in derselben Schublade und der Zucker immer an derselben Stelle im Regal. In demselben Gefäß. Mit demselben Zuckerlöffel. 

Als Kind waren wir häufig bei meinen Großeltern über Nacht. Meine Brüder bei Opa und Oma, ich bei meiner Uroma, die bis 1999 ebenfalls dort lebte. In der 4-Zimmer-Wohnung. So viele Kindheitserinnerungen hängen an diesem Ort. Mein Opa erzählte gerne Lausbubengeschichten. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass er die nicht wirklich selbst erlebt, sondern von einem witzigen Typ namens Ludwig Thoma “geborgt” hat. Machte für uns als Kinder keinen Unterschied, wir fanden es einfach Spitze und wollten sie immer wieder hören. Nach der Arbeit als Chemikant kam er immer mit dem Bus nach Hause. Wir holten ihn ab und es gab Abendbrot. Jedes Mal machten wir dabei denselben Spaß: Irgendwer lenkte ihn ab und er sah gaaanz lang aus dem Fenster. In der Zwischenzeit versteckten wir eine Pfefferoni unter seiner Wurst, von der er natürlich nichts merkte und später furchtbar fluchte, wie scharf die Wurst wäre. 

All das und so viel mehr Erinnerungen hängen an diesem Ort. Zwei Jahre vor meinem Opa ist meine Oma verstorben. Bei ihr wurde Darmkrebs diagnostiziert. Statt die nächsten Monate, vielleicht Jahre, mit OPs und Chemotherapie zu verbringen, wollte sie lieber ihre letzten Wochen zuhause verbringen. Mit ihrem geliebten Ehemann und ihrer Familie. In dieser Zeit war ich mit meinem dritten Kind schwanger und mehrmals wöchentlich bei ihr. Auch wenige Stunden vor ihrem Tod noch. Eine wahnsinnig wertvolle Erfahrung, jemand so gelassen mit dem Tod umgehen sehen. 

Dass meine Oma nicht mehr da war, war unendlich traurig. Trotzdem gab es noch meinen Opa und den Ort, an dem so viele Erinnerungen hingen. Damit war meine Oma irgendwie auch weiterhin da. Dass mein Opa jetzt verstorben ist, nimmt mir auch die letzte Person aus dieser Zeit. Und den Ort, an den ich mein ganzes Leben immer gehen konnte. Wo sich immer jemand uneingeschränkt freute, wenn ich vorbei schaute. Mein Opa war wie ein Fixstern in meinem Leben, der plötzlich erloschen ist. 

Und dann dieser Umschlag. Wie ein letztes aufflackern. Wie eine Erinnerung an den geliebten Stern. Ein letztes Aufbäumen dieses wohligen Gefühls von umsorgt sein. Auch für seine Urenkel hat er eine solche Erfahrung geschaffen. Für sie hat er (zumindest für die 9 ältesten der 13 Urenkelkinder) je eine Goldmünze gekauft. Die werden sie nun nach seinem Tod ebenfalls bekommen. Als kleine Starthilfe oder als Sicherheitsnetz. Denn finanzielle Sicherheit für seine Liebsten war ihm immer wichtig. 

Mein Opa ist vermutlich letztendlich durch Corona gestorben. Eine virale Lungenentzündung, die unentdeckt blieb, ermöglichte es Bakterien, über die Lunge in seine Blutbahn einzudringen. Viele Wochen blieb das unbemerkt, obwohl er im Krankenhaus und Altenheim zur Kurzzeitpflege von Fachpersonal umgeben war. Am Abend ging es ihm noch bestens, wenige Stunden später wurde er mit einer Sepsis ins Krankenhaus gebracht. Bis die Antibiotika angeschlagen hätten, wäre es schon zu spät gewesen. Kreislaufstabilisierende Medikamente und eine Atemmaske hielten ihn am Leben, während seine drei Kinder und einige Enkelkinder, darunter ich, eintrafen. 

Im Nachhinein bin ich nicht sicher, ob ich über diese Erfahrung froh bin. Meinen Opa sterben zu sehen. Als ich am Nachmittag nach Hause kam, fühlte ich mich einfach kalt und erschöpft. So wahnsinnig erschöpft. Tieftraurig. Friedlich und gleichzeitig so traurig. Dankbar, ihn gehabt zu haben. 38 Jahre meines Lebens. Diesen wunderbaren Mann. 

Denn das war er auf jeden Fall, wunderbar. Im Nachhinein betrachtet kenne ich wenig Menschen aus seiner Generation, die so nett waren. Immer. Ich habe in meinem Leben glaube ich kein böses Wort von ihm gehört. Von meiner Oma übrigens auch nicht. Vor allem Kinder haben die beiden über alles geliebt. Für sie waren sie niemals zu laut, niemals zu wild oder zu schlecht erzogen. Früher waren die Dinge nicht anders oder das hätte es bei ihnen nicht gegeben. Wenn mein Großer weinte, weil er etwas nicht haben oder machen durfte, hat mein Opa immer versucht, ihn aufzumuntern. Er hat niemals die Nase gerümpft oder gar geschimpft. 

Als mein dritter Sohn geboren wurde, kam mein Opa fast jeden Tag im Wochenbett, um ihn zu sehen. Er blieb nie lange, wollte nur sehen, wie es uns geht. Dass er wächst und gedeiht. 

Was ich am meisten bewundere an meinem Opa, war seine unglaublich positive Wahrnehmung vom Leben und von sich selbst. Er stand immer auf der Sonnenseite des Lebens. Unglücklich, arm oder alt waren immer die anderen. Er nie. Ich weiß noch, wie er Urlaub an der Nordsee gemacht hat. Ich denke, da war er 75 oder 80 Jahre alt. Auf die Frage, wie es ihm gefallen habe, meinte er: “Da ist es schon wirklich schön, aber…alles voller alter Leute!” Selbst auf dem Sterbebett hat er sich nicht beklagt, nicht selbst bemitleidet. Wie immer wirkte er einverstanden mit sich und seinem Leben. Oder dem Ende seines Lebens. 

Ich glaube fest daran, dass mein Opa von meiner Oma abgeholt wurde. Etwa 30 Minuten, bevor sein Körper aufhörte zu atmen, habe ich sie gespürt. Ich glaube auch, dass er abends, als ich weinend in meinem Bett saß, noch einmal nach mir geschaut hat. Ich freue mich für ihn, dass er bis auf wenige Tage sein Leben selbstbestimmt und in Gesundheit leben durfte. Trotzdem ist es schmerzlich, ihn gehen zu lassen. Ohne den Fixstern zu leben. Und den Kindern eines Tages Geschichten von ihrem Uropa zu erzählen und ihnen eine Goldmünze zu geben. 

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