Brief an eine Helikopter-Mama

Helikopter-Mami

“Helikopter Parenting”

Helikopter-Mama? So würden manche dich wohl bezeichnen, weil du sehr überfürsorglich bist, dich auf Schritt und Tritt in der Nähe deines Kindes aufhältst, um es zu behüten und zu fördern. Du schwebst sozusagen wie ein Helikopter “über” deinem Kind.

Und ganz ehrlich: auf eine gewisse Weise kann ich dich so gut verstehen. Es gibt so viele schlimme Dinge, die einem Kind zustoßen können. Theoretisch kann schon der kleinste Sturz zum Tod führen. Von emotionalen Schäden durch Vernachlässigung oder falsche Erziehung mal ganz zu schweigen. Verfolgt man die richtigen Medien, werden Kinder gefühlt ständig potentiell entführt, belästigt oder schlechten Einflüssen ausgesetzt auf dieser Welt. Ist es da nicht besser, immer aufzupassen?

Und nicht zuletzt bist du wahrscheinlich, genau wie ich, der Meinung, das allerklügste, schönste, beste und süßeste Kind der Welt zu haben. Ja, manchmal würde ich meinem Sohn gerne rund um die Uhr zusehen, mit ihm kuscheln, spielen und toben. Doch zum Glück gibt es dann wieder die Stimme in mir, die auch einfach mal Pause möchte. Die will, dass sich das Kind selbst beschäftigt und ich einfach mal doof die Wand anschauen darf. Oder alternativ die Wäsche machen, die Küche putzen oder den Schrank aufräumen. Denn eins ist mittlerweile recht gängige Meinung: Helikopter Parenting ist nicht gut für’s Kind. Der Meinung bin ich auch.

Frühförderung

“Aber”, wirst du jetzt einwerfen, “ich muss mich doch mit meinem Kind beschäftigen, um ihn zu fördern. Sonst lernt doch nichts. Und am Ende hat er im späteren Leben weniger Chancen, weil er sein Potential nicht ausschöpfen konnte. Und ich bin Schuld, weil ich ihm nicht ständig etwas beigebrachta habe.”

Ja, es ist wahr. Vernachlässigte Kinder haben im späteren Leben Nachteile. Zu wenig Input und sinnvolle Beschäftigung kann einem Kind schaden. Doch bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass mehrsprachige Kindergärten, Mutter-Kind-Kurse und frühe Klavierstunden einem Kind Vorteile bringen. Im Gegenteil. Kinder lernen am besten, wenn ihnen Gegenstand, Tempo und Inhalt des Lernens nicht vorgegeben werden. (Vgl. Maria Montessori.) Dass wir ihnen etwas “beibringen” müssen, ist ein großer Irrtum.

Denn Synapsen im Gehirn werden dann gebildet, wenn Kinder sich in einem Zustand absoluter Konzentration und völligen Wohlbefindens wiederfinden. Diesen Zustand nennt man Flow-Erlebnis und er kann nur freiwillig und vom Kind ausgehen. Ein Unterbrechen dieses Flow-Zustands bedeutet, dass dein Kind aus der Konzentration gerissen und um eine wichtige Lernerfahrung gebracht wird . Nichts geht über das Glücksgefühl, ein Problem selbständig erfasst und gelöst zu haben.

Nicht falsch verstehen: natürlich ist es toll, wenn du Zeit für dein Kind hast, mit ihm Singen, Tanzen und die Natur entdecken kannst. Nur was und wann dein Kind in welchem Tempo daraus lernt, solltest du ihm überlassen. Und wenn dein Kind sich in etwas vertieft hat, bitte störe es nicht!

Alleine Spielen

Auch und vor allem deshalb ist es so wichtig, dass dein Kind auch mal alleine spielen darf. Nicht alle Babys können das von Anfang an. Bei vielen ist die Angst vor dem Allein sein, vor dem Liegen gelassen werden, zunächst einmal größer. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem sie ein paar Minuten alleine sein können. Von da an kann man diese Zeiten sukzessive ausdehnen. Mit ihm üben, sozusagen – ohne es alleine zu lassen. Du kannst in der Zwischenzeit ein Buch lesen oder einfach mal entspannen. Oder natürlich die Wäsche machen, die Küche putzen oder den Schrank aufräumen.

Die Fähigkeit, alleine zu spielen, entwickelt sich allmählich. Allerdings kann auch das von Eltern erfolgreich unterminiert werden. Wenn du dein Kind permanent bespaßt, bei jedem Ton springst und auf jedes mögliche Bedürfnis umgehend reagierst, kann dein Baby diese Fähigkeit nicht ausbilden. Später ist es dafür oft nicht mehr bereit.

Deshalb, liebe Helicopter-Mami: lasst dein Kinder einfach mal machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich lebensgefährlich verletzt ist wirklich sehr, sehr gering. Gib ihm die Chance, zu lernen, alleine zu spielen. Das ist auch ein wichtiger Schritt in Richtung Unabhängigkeit. Wenn dein Kind dich wirklich braucht, wirst du es schon zu hören bekommen.

Immer im Mittelpunkt zu stehen, ist nicht unbedingt das Beste für dein Kind. Es kann auch lernen, mal kurz zu warten, wenn es etwas braucht. Du kannst dich auch mal mit jemandem unterhalten, ohne dieses Gespräch sofort zu unterbrechen, wenn dein Kleines einen Laut von sich gibt. Wichtig ist, dass dein Kind weiß, dass du da bist, wenn es wichtig ist. Und das weiß es, glaube mir.

“Achtung” – ” Vorsicht”: Was Warnen mit unseren Kindern macht

Kennst du das auch? Ich sehe meinem Kind beim klettern und toben zu und will ständig nur rufen: “Halt, da nicht rauf.” – “Pass auf, wo du hin trittst!” – “Sei vorsichtig, dass du nicht ausrutscht!” u.s.w. Immer mal wieder kann ich mich auch nicht zurückhalten, doch meistens sage ich stattdessen gar nichts. Halte die Angst einfach aus oder sehe nicht hin. Und glaub mir, mein Sohn ist wirklich ein Stuntman im Körper eines Kleinkindes. Andere Eltern sehen mich regelmäßig besorgt und fragend an oder gehen gleich dazu über, ihn auffangen zu wollen. Ich sage dann meistens nur “Der tut sich nicht weh. Oder wenn dann nicht schlimm.” Und es stimmt. Weil wir ihn von Anfang an haben ausprobieren und üben lassen, beherrscht er alles Grobmotorische erstaunlich gut. Wenn er fällt, weiß er, wie er sich abfedern kann. Er weiß auch, an welchem Punkt er um Hilfe rufen muss, weil er sich selbst nicht mehr befreien kann. Schlimm verletzt hat er sich noch nie.

Hast du dir schon einmal Gedanken gemacht, was im Unterbewusstsein eines Kindes passiert, wenn die ständigen Warnungen und Mahnungen ausgesprochen werden? Tatsächlich kommt dort nicht an “Mama möchte mich nur beschützen, weil sie dich so sehr liebt”. Die Message, die ankommt, ist folgende:

Die Welt ist gefährlich und ich muss ständig aufpassen. Ich muss Angst haben. Mama hat auch Angst. Meinen Fähigkeiten darf ich nicht vertrauen, Mama vertraut ja auch nicht darauf, dass ich das schaffe.

Auf diese Weise hinderst du dein Kind daran, ein gesundes Selbstvertrauen und eine gesunde Einschätzung der eigenen Fähigkeiten auszubilden. Ja, du behütest es auch vor ein paar Beulen, blauen Flecken oder gar einer Platzwunde. Doch im Gegensatz zu einer ängstlichen Grundeinstellung dem Leben gegenüber wird es diese Blessuren nicht bis ins Erwachsenenalter mit sich herumtragen.

Vertrau deinem Kind und lass ihn dieses Vertrauen auch spüren!

16 Kommentare zu „Brief an eine Helikopter-Mama“

  1. Oh, ich hoffe sehr, dass ich nicht so eine Helikopter-Mama werde… Man nimmt sich ja allerhand Sachen vor, die man als Mama machen bzw. lassen will, aber wie man dann tatsächlich ist, sieht man erst später, wenns soweit ist… Und grade beim ersten Kind macht man sich wahrscheinlich noch über allerhand Dinge Gedanken, die man dann beim zweiten total gelassen sieht, das seh ich immer wieder bei meinen Freundinnen *lol*
    LG Sandra

    1. Liebe Sandra,

      ich glaube es hilft, sich von Zeit zu Zeit selbst zu überprüfen und ein wenig zu reklektieren. Vieles kommt aber ganz intuitiv, wenn man sich nicht von anderen Meinungen oder dem, was “man” eben so macht, verunsichern lässt.

      Und ein bisschen helikoptern tun wir doch alle 😉

  2. Schön gesagt. Ich merke, wie diese Sätze viel zu oft, fast reflexartig fallen. Schneller als ich hinterherdenken kann. Ich muss sehr, sehr bewusst daran arbeiten, da leise und vertrauensvoll zu sein. Geht manchmal besser, manchmal schlechter.

    Liebste Grüße

    1. Liebe Sassi,

      ich bin mir sicher, du machst das großartig. Es geht meiner Meinung nach nicht darum, gar nicht zu mahnen, sondern ein gewisses Grundvertrauen zu vermitteln.

      Liebe Grüße,
      Hanna

  3. Danke für diesen Beitrag!
    Mein Kleiner ist jetzt 9,5 Monate alt und ich habe derzeit große Probleme mit dem ‘was ist zu viel und was zu wenig ‘Unterstützung’ und wieviel ich ihm jetzt schon zutrauen kann’ und das ist ja jetzt erst der Anfang 😀
    Dazu dann noch die ‘superschlauen’ Bücher und Kommentare von außen und ein Kind das nach den U-Untersuchungen leider motorisch ‘noch nicht weit genug’ ist… aber es hat ja ‘jedes Kind sein eigenes Tempo’ heißt es dann wieder. *seufz*
    Aber wir werden unsere Knirpse schon auch groß bekommen, oder? 😉
    Viele Grüße!

    1. Liebe Marina,

      ich kenne das Problem. Egal, wie sehr man sich vornimmt, nicht auf andere zu hören, die Sprüche bleiben trotzdem im Kopf. Und nagen dann spätestens abends, wenn es ruhig ist. “Was, wenn sie doch recht haben?” “Wenn dann doch was passiert, und ich habe nicht aufgepasst…”.

      Ich versuche, vor allem auf das zu hören, was ich und mein Mann glauben und für richtig halten. Auch wenn es, wie du sagst, nicht einfach ist.

      Groß werden sie mit Sicherheit – und zwar viel zu schnell vermutlich 😉

      Hanna

  4. Klar, Du hast natürlich recht damit, Kindern das Spielfeld zu überlassen, damit sie selbst wachsen. Das Problem an der Sache ist für viele Eltern aber sicher eines: Angst. Angst davor, dass das eigene Kind hinten runter fällt, es nicht schafft. Das ist ein altruistischer (ich mache alles für Dich, damit Du es schaffst) aber gleichzeitig egoistischer (Du bist mein Abbild, wenn das nix wird, war alles für die Katz) Gedanke.
    Eltern sind also immer in diesem Zwiespalt von Kontrolle/Eingreifen und Loslassen/Vertrauen. Übrigens nicht nur die ersten Jahre, ein Leben lang. Ein echtes Zerrfeld…

    1. Hallo Robert,

      in meinen Augen ist die Angst am Ende des Tages überwiegend egoistisch. Aber das ist denke ich Ansichtssache…Und den Zwiespalt kennen wir bestimmt alle, das bleibt uns, wie du so schön sagst, unser Leben lang nicht erspart.

  5. Mir fällt es unglaublich schwer, nicht zu viel zu helikoptern. Ich versuche es immer wieder, aber ich schaffe es einfach nicht. Kaum bin ich aus dem Raum, um zum Beispiel in der Küche was zu machen, während der kleine Rabe im Wohnzimmer spielt, alarmiert mich jedes Geräusch und ich bekomme Panik, dass er sich an etwas verschlucken oder in die Steckdose fassen oder sich den Finger in der Tür brechen oder sonstwie verletzen könnte.

    Ich vermute, dass bei uns da auch viel das Trauma mit reinspielt, dass er uns nach der Geburt sofort weggenommen wurde und wir ihn eine Woche lang nicht sehen konnten, weil er auf der Neugeborenenintensiv lag.

    Daran müssen wir arbeiten. Das weiß ich. Aber es ist verdammt schwer…

    Und jetzt gerade mache ich mir deswegen noch mehr Vorwürfe. 🙁

    1. Liebe Fledermama,

      bitte mach dir keine Vorwürfe, das war nicht das Ziel meines Briefes. Anscheinend hast du das Problem ja längst erkannt und versuchst, daran zu arbeiten. Ich denke, dass viel davon auch eine Frage des Charakters und des eigenen Aufwachsens ist. Oft kann man da nicht so einfach aus seiner Haut. Das braucht vielleicht einfach Zeit und viele Versuche. Vielleicht musst du ja auch nicht gleich den Raum verlassen sondern es reicht, wenn du dich im selben Raum mit etwas anderem beschäftigst und nicht permanent neben ihm stehst / kommentierst, was er tut?

      Liebe Grüße,
      Hanna

  6. Hallo Hanna,
    danke für diesen schönen Artikel! Ich habe mich auch vor kurzem mit diesem Thema beschäftigt.
    Ich finde Maria Montessoris Haltung auch super und der Punkt mit der self-fulfilling prophecy! Genau mein Reden!
    Wobei es manchmal echt schwierig ist sich zurück zu halten 😉

    Liebe Grüße,
    Sonja

    1. Liebe Sonja,

      natürlich ist in uns auch der Trieb, unsere Kinder vor Schaden zu bewahren. Deshalb fällt uns das so schwer. Und diesen Trieb sollte man natürlich auch nicht komplett ignorieren, man muss eben irgendwo ein Mittelmaß finden…

      Alles Liebe,
      Hanna

  7. Hallo, ich glaube jedoch fest daran, dass jede Mutter Ihr eigenes Kind am besten einschätzen kann und daher genau für sein Kind weiß, wieviel Unterstützung und Aufmerksamkeit eben dieses Kind braucht. Das variiert sogar unter Geschwistern. Ich habe einen 6jährigen Sohn, vom Typ Rubbelbatz und eine 3 jährige Tochter, die sehr vorsichtig und bedacht ist. Ergo, sitze ich bei meinem Sohn meist weit weg und halte bei waghalsigen Aktionen auch schon mal die Luft an und stehe beständig hinter meiner Tochter und halte Händchen, wenn sie herum klettert! Zähle beim schwimmen Lernen innerlich bis 10, damit er die Chance hat selber wieder aufzutauchen… Also bin ich entspannte Lass- mal- machen- Mama und Helikopter- Mama in Personalunion. 🙂 Allerdings habe ich mit meinem Sohn auch schon deutlich öfter die Notaufnahme von innen gesehen, wegen diverser Platzwunden…

    1. Hallo Kathrin,

      die Notaufnahme ist uns bisher zum Glück erspart geblieben, aber mein mann spricht schon vom “High Risk” Kind 😉

      Natürlich hast du Recht und man kann nicht pauschal dasselbe Maß an behüten bzw. machen lassen auf jedes Kind anwenden. Manche fordern einfach mehr Unterstützung als andere. Mir geht es ja vor allem um die Situationen, in denen ein Kind eben nicht danach fragt, sondern selbst ausprobieren möchte. Wenn es dann immer zurückgehalten, festgehalten und verbal verunsichert wird, kann das schon sehr prägend sein.

      Viel Glück für deinen kleinen Stuntman,
      Hanna

  8. Ich finde deinen Text toll, gut und eifühlsam erklärt!
    Nicht immer ist das, was wir Erwachsenen für das Beste halten, auch tatsächlich gut für das Kind. Das einzusehen ist nicht immer so leicht. Letztendlich sind unsere Kinder in vielen Bereichen kompetenter und souveräner, wenn wir sie einfach machen lassen.

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