Mehr als zwei Jahre ist es her, dass ich berichtet habe, wie das Trotzphasen-Buch vom gewünschtesten Wunschkind meinem Mann dabei half, besser mit unserem Kleinkind klar zu kommen. Vor einiger Zeit begann das Thema “Schimpfen” bei uns immer wichtiger zu werden. Denn der nun 4-jährige konnte genau benennen, dass ihm das missfiel und dass der Papa ihn zu oft schimpfe. Ein neues Buch musste also her. In der Hoffnung, dass das Problem damit einfacher würde. “Erziehen ohne Schimpfen”.
Fazit des Mannes: Nur kurzer Aha-Effekt
Er begann also zu lesen. Auf den ersten Seiten konnte man förmlich spüren, wie ihm das Thema nahe ging. Es geht dort nämlich nicht wirklich um Schimpfen. Stattdessen geht die Autorin dem wahren Problem auf den Kern: Die Ursache, warum wir so oft unangemessen reagieren, explodieren und schimpfen. Für Nicola Schmidt ist der Kern allen Übels, dass wir in unserer modernen Welt häufig im Dauerstress sind. Und Stress blockiert gewisse Areale im Gehirn, sodass zum Beispiel Empathie und rationales Denken zu kurz kommen. Wir reagieren instinktiv und impulsiv.
Und genau da fühlte mein Mann sich ertappt. Er begann, nachzudenken und nachzuspüren, wie sich diese Muster bei ihm eingeschlichen haben. Was so großen Stress verursacht und wie er besser damit zurecht kommen kann. Ein Schlüssel zum Stressabbau ist immer Bewegung. So begann er zum Beispiel, wieder mehr Sport zu machen. Seit einigen Wochen belässt er es auch nicht mehr beim Laufen, sondern er fährt immer öfter Rennrad. Dabei, sagt er, kann er dem Familienalltag für ein paar Stunden wirklich komplett entfliehen – und richtig abschalten.
Das Nicht-Schimpf-Buch konnte ihn allerdings trotzdem nicht wirklich begeistern. Einige Kapitel später brach er die Lektüre ab. Für ihn wäre das Buch nichts, da käme nichts relevantes mehr.
Meine Lektüre von “Erziehen ohne Schimpfen”
Ich bin ein großer Fan von Nicola Schmidt und fand die Lektüre ihres “Artgerecht-Buches” einen wahren Augenöffner. Deshalb konnte und wollte ich dem Urteil meines Mannes nicht recht glauben. Ich musste mir ein eigenes Bild machen. Weil mir das Lesen von Büchern meist schwer fällt – ich schlafe ein, sobald ich im Liegen lese – war ich froh, dass es “Erziehen ohne Schimpfen” auch als Hörbuch bei Audible.de gibt (ich habe einfach einen kostenlosen Probemonat abgeschlossen).
Dauerstress durch nicht artgerechtes Familienleben
Zunächst geht es im Schimpf-Buch aber gar nicht um Schimpfen. Es geht um das Thema Dauerstress. Ein Zustand, in den Eltern in unserer westlichen Welt häufig verfallen. Das, was von uns gefordert wird, ist einfach nicht artgerecht. Es entspricht also nicht unseren körperlichen und psychischen Veranlagungen, die wir aus den vielen hundertausend Jahren Evolution mitgebracht haben.
Was ich besonders interessant fand: Es gibt Menschen, die so gut wie nie schimpfen. Es gibt sie, die tiefenentspannten, dauerliebevollen Übermütter. Auch heute noch. Nur eben nicht bei uns. Sondern bei Naturvölkern. Dort, wo die Menschen noch artgerecht in Gruppen zusammenleben und gegenseitige Unterstützung haben. Der Gedanke, dass zwei Erwachsenen mit einem oder mehreren Kindern in einer isolierten Einzelbehausung zusammen leben, wäre dort regelrecht abstrus. Auch eine 40-Stunden-Woche kennen die Menschen dort nicht. Die !Kung zum Beispiel, ein relativ gut erforschtes Nomadenvolk im Süden Afrikas, arbeiten die Menschen 12-21 Wochenstunden. Und zwar überwiegend körperlich und im Freien.
Jedenfalls konnte dort eindrucksvoll beobachtet werden, wie auch die gelassenste Mutter der Welt in Stress gerät. Einige der Nomadenvölker wurden in den 1980ern sesshaft, auch im Zusammenhang mit der Ausbreitung von Viehhirten. Dank Ziegenmilch und Getreidebrei, der nun für Babys zur Verfügung stand, wurde plötzlich weniger gestillt und der Geburtenabstand nahm ab. Vorher wurden die Kinder etwa 3-4 Jahre viel gestillt und eine erneute Schwangerschaft verhindert. Ein Baby und ein Kleinkind gleichzeitig zu erziehen ist also Stress pur.
Und Stress, vor allem, wenn er nicht durch Bewegung oder andere Maßnahmen abgebaut werden kann, führt zu Ungeduld, fehlender Empathie, Planungsunfähigkeit, Denkblockaden – und eben dazu, dass wir mit unseren Kindern schimpfen.
Alternativen zum Schimpfen
Natürlich bleibt das Buch aber nicht bei der Anprangerung schwieriger Lebensumstände stehen. Es soll ja darum gehen, wie wir erziehen können, ohne zu schimpfen. Ich als Mutter eines sehr aktiven und oft scheinbar unkooperativen Vorschulkindes kann mir das ja schwerlich vorstellen. In den folgenden vier Kapiteln stellt Nicola Schmidt also Lösungen vor, die nicht beinhalten, dass wir in nomadischen Clans zusammenleben.
- Wie wir anders mit Stress umgehen
- Wie wir uns im Alltag entlasten
- Konfliktlösung durch Spielen
- Regeln ohne Schimpfen durchsetzen
Am Ende gibt es noch eine 21-Tage Schimpfdiät (nein, sie nennt es nicht so und ja, ich weiß, dass es ein gleichnamiges Buch von Daniela Gaigg gibt). Denn viele unserer Verhaltensweisen sind vor allem eins: Übung.
Mein Fazit
Mehr will ich über den Inhalt aber nicht verraten. Ich kann das Buch, im Gegensatz zu meinem Mann, auf jeden Fall empfehlen. Mich hat es dazu gebracht, im Alltag in kleinen Situationen meine Schimpf-Muster zu erkennen und manchmal einfach die Klappe zu halten oder liebevolle, konstruktive Alternativen anzuwenden. Auch, wenn es nicht immer klappt – dazu müsste ich vielleicht die 21-Tage-Challenge durchführen?
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