“Mama, ist hundert plus hunderteins zweihunderteins?” Mein 5-jähriger sitzt hinter mir im Auto und ich muss mich innerlich mal wieder schütteln. Woher kommt dieses plötzliche Verständnis für Zahlen und Buchstaben? Wer mich kennt weiß, dass wir weiß Gott nicht die Menschen für Frühförderung und Erziehung zu maximalem schulischen Erfolg sind. Jedes Kind darf sich hier in seinem eigenen Tempo, seinen individuellen Interessen gemäß entwickeln. Nur rechnet man bei solchen Sätzen meistens damit, dass sie sich “langsamer” entwickeln, als mit spezieller Förderung. Der 5-jährige wird nächstes Jahr auf die Montessori-Schule gehen, auf der auch sein Bruder ist. Und bis dahin kann er sich doch noch Zeit lassen – oder etwa nicht?
Wann ist die sensible Phase für Zahlen und Buchstaben?
Um diese Frage für mich zu klären, habe mich also hingesetzt und nachgelesen, was eigentlich passiert bei meinem Kind. Und siehe da, entwicklungspsychologisch ist er laut Montessori genau richtig dran. Denn im Alter von 3-6 Jahren ist er in einer sogenannten sensiblen Phase für Zahlen und Buchstaben, man spricht hier vom Zeitfenster der “Bewusstsein und Vervollkommnung”.
Was bedeutet das genau? Ein sensibles Fenster oder eine sensible Phase bezeichnet nach Montessori einen Zeitraum, in dem Kinder besonders empfänglich, besonders “sensibel” sind für den Erwerb ganz bestimmter Fähigkeiten. Nach dieser Phase nimmt die Aufnahmebereitschaft und Begeisterung für die entsprechenden Sachverhalte und Inhalte wieder ab und es wird für Kinder schwieriger, in diesem Bereich zu lernen (natürlich aber alles andere als unmöglich!).
Ab dem Alter von 3 Jahren, und das kann ich rückblickend nur bestätigen, suchen Kinder nach sozialen Kontakten außerhalb der Familie, erweitern ihren Aktionsradius erheblich. Wie viele Kinder haben wir unseren Zweitgeborenen mit 3 Jahren das erste Mal in den Kindergarten geschickt und das hat für ihn zunächst auch gut geklappt.
Gleichzeitig beobachte ich seit einiger Zeit ein starkes Interesse an Zusammenhängen in der Natur: Stürme, Erdbeben, das Universum, der menschliche Körper, all das wirft Fragen bei ihm auf. Wir leihen Bücher aus und er hört sich alle Details mit Interesse an, seit er 4 Jahre alt ist.
Und nun kommt seit einigen Wochen diese maßlose Begeisterung für die klassischen Grundschul-Inhalte: Lesen, Schreiben, Rechnen. Mit einer Leidenschaft, die ich von seinem Großen Bruder nur in sehr viel geringerer Ausprägung kenne, sitzt er stundenlang mit Bleistift und Übungsblatt oder Rätselheft, schreibt 25 Mal hintereinander denselben Buchstaben oder rechnet mit Rechenschieber bis 100 oder im Kopf bis 20. Das entspricht also genau dem Zeitfenster, das Maria Montessori angibt, in dem sich Kinder für Lesen, Schreiben und Zahlen interessieren.
Kinder zum lernen animieren – wie geht das?
Individuelles Tempo und Interessen
Jetzt fragst Du Dich vielleicht, was wir getan haben, um ihn zu solch frühen Leistungen zu animieren – und ob das für andere Kinder in dem Alter auch funktionieren könnte? Also zunächst ist jedes Kind anders. Wann wie viel gelernt wird hängt nicht nur davon ab, was wir Eltern zur Verfügung stellen und wie viel Unterstützung ein Kind erfährt. Es hängt ganz einfach auch vom Charakter und den Interessen des Kindes ab.
Meinem Großen zum Beispiel entspricht es so gar nicht, etwas Gelerntes häufig zu wiederholen und dadurch zu perfektionieren. Er möchte am liebsten alles erfahren und kennenlernen – aber eben nur so lange, bis er es kennt. Üben und Wiederholen sind so gar nicht sein Ding. Sein kleiner Bruder ist genau das Gegenteil, nicht nur beim Lesen und Schreiben. Schon als Kleinkinder war das abzusehen: Der Große wollte am besten alles hören, sehen, anfassen, ausprobieren. Wenn er ein Buch vorgelesen bekommen hatte, wollte er das nächste. Was er schon konnte, interessierte ihn nicht mehr. Der Zweite dagegen liebt schon immer die Wiederholung. Kinderbücher wollte er möglichst oft hintereinander hören. Wieder und wieder und wieder, bis wir Erwachsenen nicht mehr konnten – und er es auswendig wusste. Und genauso leidenschaftlich übt er jetzt Buchstaben schreiben und Rechenaufgaben.
Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht
Die richtige Umgebung schaffen
Außerdem solltest Du über Lernen wissen, dass Kinder das immer selbst tun. Wir müssen bzw. können ihnen nichts beibringen, der Lernprozess muss immer in ihnen selbst stattfinden. Freiwillig. “Man kann in Kinder nichts hineinprügeln”, wie Maria Montessori es ausdrückte.
Trotzdem brauchen Kinder etwas von uns, um zu lernen, nämlich die passende Umgebung und Anreize im Alltag. Bei uns zuhause fallen mir da spontan folgende Dinge ein:
- ABC-Poster an der Wand
- Rechenschieber
- Übungsmaterial (Vorschul-Rätselhefte, Arbeitsblätter etc.)
- Vorbild durch großen Bruder
- Bücherregal in erreichbarer Höhe
- Lernspiele verschiedenster Art
Lernspiele vermitteln ganz nebenbei Kernkompetenzen oder Wissen, z.B. Zählen oder in Kategorien einteilen. Bei uns sind es tatsächlich die ganz simplen, die immer wieder beliebt sind: Memory, Domino, Maxiyatzy, Puzzles. Für viele davon braucht man einen Spielpartner, einige können die Kleinen aber auch einfach selbstständig ausprobieren, wenn wir es ihnen einmal gezeigt haben.
Ob und in welchem Umfang ein Kind diese Angebote annimmt, kann Dir vorab niemand sagen. Aber eins kann ich Dir sagen: Mit Druck oder hohen Erwartungen erreicht man meist das Gegenteil. Vertraue einfach darauf, dass sich Dein Kind seinen individuellen Fähigkeiten und Interessen gemäß entwickelt. Das kann Lesen und Rechnen mit 5 sein, es kann aber auch etwas ganz anderes sein – oder gar nichts, was in unseren erwachsenen Denkstrukturen als wertvolle Fähigkeit wahrgenommen wird. Ein Kind wird nicht dadurch wertvoll oder liebenswert, dass es früh kognitive Potentiale entfaltet, sondern um seiner selbst willen!