Mein Elternhaus steht direkt an einem See. Das Ufer des Sees ist ein Kieslager, das heißt es werden dort Kieselsteine aus dem Wasser gebaggert und weggefahren. Als Kinder haben wir viel Zeit auf den Kieshügeln und am Wasser verbracht. Wir waren oft auf der Suche nach besonders schönen Kieselsteinen, die besondere Farben, Formen oder Größen hatten. Wir wurden älter und mit den Jahren war das Kieslager in meiner Wahrnehmung nur noch eine graue, gleichförmige Masse, die es zu überwinden galt, wenn ich mal im See schwimmen wollte.
Neulich saß ich mit meinem 2-jährigen Sohn an eben diesem Kiesstrand und wir warfen Steine ins Wasser. Eine Tätigkeit, in der er die Ausdauer eines Leistungssportlers an den Tag zu bringen scheint. Und als ich da so saß und ihn beobachtete, fiel mein Blick auf einen wunderschön rosa marmorierten Kieselstein. Danach auf einen, der mit weißen Linien verziert war. Der nächste hatte einen Punkt, der wie ein Auge aussah. Wie ein Fenster zu einer Welt, die ich vor langer Zeit gekannt hatte, flammte in mir die Begeisterung für Kieselsteine auf.
Warum ist das so? Warum verlieren wir den Blick für diese wunderbaren Kleinigkeiten? Wusstet ihr, dass es über 85 verschiedene Arten von Kieselsteinen im Voralpenland gibt? Trotzdem sind für die meisten Erwachsenen die meisten einfach nur grau.
Achtsamkeit mit Kind – erleben und erlernen
Achtsamkeit ist in aller Munde. Nicht nur Zeitschriften, Fernsehbeiträge und Well-Being-Blogs berichten davon – auch in den Köpfen passiert dazu einiges. Auch als Mutter lässt mich das Thema nicht kalt – zu oft hetzen wir von einem Termin zum anderen, haben keine Zeit, unseren Gedanken zuzuhören. Es sind nur ganz kleine Momente – den Nachwuchs friedlich schlafend auf der Couch zu beobachten, aus dem -Nichts mit einem unglaublich lieben Blick bedacht zu werden – in denen wir achtsam sind. Das sind die Momente in denen selbst ich voll im Hier und Jetzt bin. Aber sonst? Von innerer Ruhe keine Spur, stattdessen Stress, Hetze und so viel planen, denken, grübeln.
Dennoch können Kinder uns viel zum Thema Achtsamkeit beibringen. Denn sie leben ganz intuitiv im Hier und Jetzt, unbeschwert, ohne Grübelei. Sie sehen die 85 verschiedenen Kieselsteine. Wenn wir es zulassen und genau zuhören, was die Kleinen sagen und zeigen wollen, können wir einen Teil der kindlichen Unbeschwertheit zurückerobern. Und auch im Gegenzug unser Kind in ein Leben begleiten, in dem es in sich ruht und ausgeglichen ist.
Warum ist Achtsamkeit so wichtig für uns Erwachsene?
Achtsamkeit – was ist das eigentlich?
Auf den Punkt gebracht: Wenn ich mir ein Wasser hole, hole ich ein Wasser. Wenn ich mit meinem Kind esse, esse ich mit meinem Kind. Ich denke beim Wasser holen nicht ans gemeinsame Essen und beim gemeinsamen Essen nicht ans Wasser holen. Diese bewusste Wahrnehmung des jetzigen Augenblicks geht vielen Menschen im Laufe ihres Lebens verloren. Immer steht etwas an, immer hetzt etwas in uns. Achtsamkeit hilft, diese Wahrnehmung wiederzuerlangen und jederzeit im Hier und Jetzt zu verweilen, statt ständig gedanklich in der Zukunft oder der Vergangenheit zu sein – während der Augenblick einfach verstreicht.
Jeder Moment ist wertvoll und sollte geschätzt werden. Das gelingt aber nicht, wenn die Gedanken nicht in dem Moment sind, sondern ganz woanders. Kennt ihr das, wenn ihr zu Hause eurem Alltag nachgeht und plötzlich nicht wisst, was ihr in der letzten Stunde gemacht habt? Genau, das ist nicht sehr achtsam. Stattdessen ist es „den Tag irgendwie rumgebracht“ – und eben nicht bewusst gelebt. Es ist ein Tag, der abends schon aus dem Gedächtnis gestrichen ist und nie die Chance hatte, bleibende Erinnerungen zu hinterlassen.
Gerade als Mutter ist es aber so wichtig, bewusst zu leben und zu erleben. Ich höre immer wieder „Die Kleinen sind so schnell groß“ – und auch wenn dem häufig ein „Es war keine leichte Zeit“ entgegensteht, sind diese so schnell verflogenen Momente mit dem Kind doch wertvoll. Wenn wir davon nicht möglichst viele bewusst wahrnehmen und achtsam erleben, stehen wir irgendwann auch an dem Punkt, an dem wir sagen: Die Zeit ist so schnell verflogen, ich weiß gar nicht wo die ganzen Tage hin sind.
Achtsamkeit durch das Kind erleben
Dabei sind wir mit kleinen Kindern gewissermaßen mit einem automatischen Achtsamkeitslehrer ausgestattet. Denn Kinder leben ganz unbewusst, ganz intuitiv. Sie machen sich keine Gedanken über das Abendessen oder den morgigen Tag, denken nicht mittags schon ans ins Bett gehen oder an die Einkäufe mit Mama am nächsten Tag. Stattdessen gehen sie über den Spielplatz, sehen ein Stöckchen und spielen damit – weil ihnen grade danach ist. Sie sehen etwas und bleiben stehen, weil es etwas Interessantes zu beobachten gibt – wohin ihr Weg sie eigentlich geführt hat, ist bereits vergessen.
Kinder nehmen diese kleinen Momente in sich auf und auch wenn ich als Mama nicht vergessen kann, wohin wir unterwegs sind oder jegliche Planung aufgeben könnte, ist es doch schön, sich mal treiben zu lassen und sich ein paar Inseln zu gönnen. Stehen bleiben und den Vogel im Baum beobachten, den der Rubbelbatz entdeckt hat. Oder die Blume zu pflücken, die da im Park wächst, ganz überraschend. Oder aber bewusst wahrnehmen, wie glücklich der liebe Blick des Kindes macht, das sich morgens noch 10 Minuten auf mich drauf wirft und „kuuuseln“ will.
Bei Achtsamkeit geht es darum, in sich hinein zuhören und zu beobachten, was Einflüsse von außen in einem auslösen. Sich darauf zu fokussieren und wertfrei hinzunehmen. Statt sich also über Kleinigkeiten aufzuregen, wird die Reaktion untersucht – bevor sie ausbricht. Das hilft insgesamt dabei, gelassener zu werden – ein Effekt, der sich auch auf das Kind ausbreitet.
Übungen für Eltern und Kind
Wer jetzt denkt „Na wie jetzt, ist die über Nacht zur superentspannten Achtsamkeitstrainierin geworden?“ liegt weit daneben. Denn gerade mir fällt es unglaublich schwer, mich ausschließlich im Jetzt wiederzufinden. Ich bin ein Mensch, der plant und denkt und vor allem in der Zukunft lebt. Mein Mann versucht seit vielen Jahren, mich zu unterstützen, mich auch einfach mal treiben zu lassen und den Moment zu genießen. Natürlich hat auch das schon Früchte getragen, aber von ständiger Achtsamkeit bin ich weit entfernt. Nun habe ich seit über zwei Jahren meinen persönlichen Achtsamkeitstrainer und sehe mehr als je zuvor die Notwendigkeit, auch mal etwas runterzukommen.
Denn Eltern und Kinder können Achtsamkeit gemeinsam üben. Um morgens schon entspannt und mit guter Laune aufzustehen hilft es, erst einmal ruhig liegen zu bleiben und in sich hinein zu hören. Sich recken und strecken, das können schon die Kleinsten. Dann springe ich nicht wie früher schnell aus dem Bett und starte in den Tag – ich nehme mir so viel Zeit, wie wir wollen und kuschle eben mit dem kleinen Schmusebär. Diese gemeinsamen Rituale helfen, sanft in den Tag zu starten.
Eine andere praktische Übung ergibt sich beim Essen: Nach was schmeckt das, wie fühlt sich das Essen an? Und was fühlst du dabei? Diese Fragen sich und dem Kind zu stellen, mag am Anfang komisch sein, führt jedoch dazu, dass die Nahrungsaufnahme deutlich langsamer von statten geht. Beobachtet auch die kindliche Freude, wenn das Lieblingsessen auf den Tisch kommt – das Mittagessen, etwas ganz Alltägliches, ist plötzlich das große Highlight.
Auch Aktivitäten, die eigentlich in Stress ausarten, lassen sich durch Achtsamkeit schöner und entspannter gestalten. Ein besonderer und gut geplanter Familientag mit Ausflug, gemeinsamen Kochen und gemeinsamen Spiel am Abend ist zu schnell verflogen, wenn immer nur an die nächste Aktivität gedacht wird – was steht als nächstes an, was muss ich dafür machen, woran muss ich denken? Dieses „muss“ und gedanklich in der Zukunft sein bedeutet auch, dass die Planerin gar nichts von dem eigentlichen schönen Tag mitbekommt – und stattdessen am Ende des Tages zurück schaut und merkt: Ich konnte das gar nicht genießen. Da hilft es, sich zwischendurch zu sammeln und auch mal den anderen Familienmitgliedern gegenüber zu äußern: Ist das nicht schön, dass wir gemeinsam hier sind?
Wenn ihr gemeinsam spazieren geht, animiert eure Kinder dazu, Steine zu sammeln, am Wegesrand, auf der Wiese. Auf dem Kieslager. Aber nicht irgendwelche – ganz besondere, tolle Steine sollen es sein. Setzt euch dann gemeinsam hin und schaut euch jeden einzelnen Stein genau an. Lasst euch erzählen, wie sich der Stein anfühlt, welche Farbe er hat und was genau ihm daran gefällt. Das trainiert neben der Achtsamkeit auch das Verständnis für das Kind – denn manchmal fällt es uns trotz allem schließlich schwer, uns in den kleinen Menschen hinein zu versetzen. Ihm zuzuhören und nachzuvollziehen, warum dieses und jenes besonders toll ist. Das schult die Sicht durch die Augen des Kindes.
Auch andere Übungen helfen dabei, gemeinsam achtsam zu sein. So nähert ihr euch einander als Familie immer wieder Stück für Stück, lernt euch ineinander einzufühlen. Ihr lernt einander noch besser kennen und auch euch selbst, Stück für Stück. Toll ist es insbesondere zu beobachten, wie ihr gelassener werdet – als Mama, als Papa, aber auch das Kind. Überreaktionen werden seltener, das gestresste Gefühl lässt nach, wenn wir lernen, Dinge so zu nehmen wie sie kommen – etwas, das als Familie wirklich gesund ist.
Schafft ihr es, im Alltag mit Kind achtsam zu sein? Bemüht ihr euch darum? Habt ihr überhaupt schon mal über das Thema nachgedacht?