Das verlorene Paradies

Bis nach Südostasien sind wir gereist, um einen guten Ort zu finden für uns und unseren Sohn (damals nur einer). Gefunden haben wir ihn ganz unerwartet nah: Bei meinen Eltern auf dem Hof. Dort gefiel es uns so gut, dass wir beschlossen, zu bleiben, während wir überall auf der Welt hätten leben können. Warum der abgelegene Hof im tiefsten Bayern für uns ein kleines Paradies war und wie dieses zerbrach, erzähle ich heute. 

Der beste Ort für unser Kind

Seit er anfing, sich zu bewegen und Töne zu machen, gab mir unsere liebe Gesellschaft bezüglich meines ersten Sohnes vor allem eine Rückmeldung: Er war zu viel. Zu laut. Zu schnell. Zu aktiv. Zu neugierig. Zu wild. Zu verrückt. Zu ungewöhnlich. Immer hatte ich das Gefühl, ihn auf Schritt und Tritt begleiten zu müssen. Und trotzdem gab es an jedem öffentlichen Ort mindestens eine ältere Dame, die die Nase rümpfte oder einen lästigen Schichtarbeiter, in dessen Kindheit es sowas nicht gegeben hätte.

Ich weiß noch, wie wir mal mit unserem Kind beim Griechen waren. Wir haben uns große Mühe gegeben, damit er sich gesellschaftskonform verhält. An diesem Tag sogar mit verhältnismäßig großem Erfolg, aber ein oder zweimal quietschte er laut sein neues Lieblingswort aus einem Buch. Außerdem wollte er natürlich selten stillsitzen und lief auf unserer (!) Sitzbank hin und her. Dass das den betagten Gästen am Nachbarstisch nicht passte, hatte ich natürlich längst mitbekommen. Als jedoch eine Dame lautstark verkündete, sie müsse jetzt gehen, weil sie sonst “ein Kind würgen” müsse, konnte ich mich nicht zurückhalten und ließ sie wissen, dass ich durchaus zurückwürgen würde, sollte sie mein Kind anfassen wollen. Die war schnell weg, das kann ich euch sagen. So richtig wohl fühlten wir uns trotzdem nicht mehr.

So war unser Alltag mit Kleinkind damals und wir gingen sehr selten irgendwo hin. 

Und dann fanden wir nach etwa zwei Jahren endlich einen Ort, wo unser Kind nicht zu viel war. Wo wir entspannen konnten und er genau so sein durfte, wie er war. Wild. Und aktiv. Und viel. Vor unserer Zeit auf Bali hatten wir unsere Wohnung in Berlin aufgegeben und waren zu meinen Eltern aufs Land gezogen. Hier gab es keine Nachbarn, auf die man hätte Rücksicht nehmen müssen. Um uns vor allem grün und Platz und Natur. Perfekt für unseren kleinen Wirbelwind. Und perfekt vor allem für uns. 

Als wir 9 Monate später mit einem kleinen Brüderchen in meinem Bauch aus Südostasien zurück zu meinen Eltern kamen, war das Gefühl noch stärker: Hier wollten wir bleiben. Hier sollten unsere Kinder aufwachsen. Hier, wo sie sein dürfen, wie sie eben sind. Bei ihren Großeltern, von denen ein Teil nur noch Teilzeit arbeitete und viel Zeit für die Enkelkinder aufbringen wollte. Mit viel Garten und Wald und Wiese und einem See vor der Haustür. Mit vielen Obstbäumen, Gemüsegärten und Beerenhecken. Mit eigenen Hühnern und einer Katze und Vogelgesang am Morgen. 

Gegenüber von meinem Elternhaus hatten sich meine Eltern mittlerweile ein neues Haus gebaut. Ihr Traumhaus für’s Alter. Niedrigenergiehaus, alles in rückenschonender Höhe, schwellenfrei. Das alte Wohnhaus sollten nun wir bekommen. Meine Eltern schenkten es mir und meinen Brüdern zu gleichen Teilen, wir bezahlten ihren Teil aus. Renovierungsbedürftig ist es an manchen (vielen) Ecken, das ist klar. Aber mein Papa ist ja da und kann alles (wirklich alles!). Er würde uns auf jeden Fall helfen. Auch bei den vielen Aufgaben rund um’s Haus würden die beiden uns unterstützen. Genauso wie bei dem komplizierten Heizungssystem mit tausend Knäufen und Hähnen irgendwo im Keller verteilt. Den vier Sicherungskästen im Haus und dem Ausbau des Dachbodens, denn der Dachstuhl war gerade neu gemacht worden. 

Klingt perfekt, oder?

Fanden wir auch. 

Deshalb einigten wir uns auch, dass wir unter diesen Umständen noch ein drittes Kind bekommen könnten. So viel Unterstützung. So ein perfektes Großfamilienumfeld. 

Und dann kam Corona

Doch die Wahrheit ist: Da hatten wir uns ordentlich verkalkuliert. Denn schon lange brodelte hier ein Konflikt, ausgelöst durch etwas so kleines, dass es mit bloßem Auge gar nicht sichtbar ist: Ein Virus. Das Coronavirus. Unser zweiter war gerade ein halbes Jahr und frisch aus dem Krankenhaus entlassen (RS-Virus), nach einer schweren Atemwegsinfektion. Niemand wusste so genau, was da auf uns zukommt. Die ersten Fälle bei Webasto-Mitarbeitern in Bayern. Mein Baby mit stark angeschlagenen Schleimhäuten. Ich war nahe an panisch. Habe Familienmitglieder genötigt, ihre Hände zu desinfizieren nach dem Einkaufen. Doch bei uns gab es keinen Konflikt. Der Mann und ich waren uns immer soweit einig. Oder der jeweils anderen Meinung gegenüber tolerant. 

Von meinen Eltern kann man das leider nicht sagen. Einer von ihnen arbeitet im Gesundheitswesen und war unter den ersten, die sich mit Corona infizierten. Und auch unter den ersten, die die neuartige Impfung bekamen. Der andere Elternteil arbeitet auch im Gesundheitswesen, aber weniger nah am Menschen. Bis heute hatte er weder Corona noch eine Corona-Impfung. Und ist auch stark gegen die Impfung. Und so kam eins zum andern und die beiden waren mitten in einer Ehekrise. Die Coronakrise ging vorbei. Die Ehekrise nicht. Und so sind meine Eltern heute geschieden und die Situation hier auf dem Hof mehr als unklar. Die Pläne, wie es weiter gehen soll, ändern sich immer mal wieder, aber eins ist klar: Unser kleines Paradies, das wir hier vorgefunden haben, wird es so nicht mehr geben. Unsere Kinder werden nicht mit Oma und Opa als Paar aufwachsen, beide im Haus gegenüber, so wie wir uns das alle vorgestellt hatten. 

Erstens kommt es immer anders…

…und zweitens als man denkt. Auch die kleine Hanna, die es hasst, wenn ihre Eltern streiten – oder gar nicht miteinander reden – steckt immer noch in mir. Auch mit 38 Jahren bin ich immer noch die Tochter meiner Eltern, auch wenn ich jetzt selbst Mama bin. Ich verstehe, warum jeder der beiden so gehandelt und entschieden hat. Und doch hofft ein Teil von mir immer noch, eines Morgens aufzuwachen und die zwei haben sich einfach wieder vertragen. Und alles ist wieder wir immer. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie furchtbar das für Kinder im Kindesalter sein muss. Wenn es für Kinder im Erwachsenenalter noch so unangenehm ist. 

Nun bleibt uns nur, das beste daraus zu machen. Wir haben jetzt ein Haus, eine Photovoltaikanlage, viel Wiese und Garten und eine komplizierte Heizung und viele renovierungsbedürftige Ecken am und im Haus. Wir haben Versicherungen und ein eigenes Auto und gehen auf Gemeindeversammlungen zum Ausbau der öffentlichen Wasserversorgung. Ich weiß jetzt, wie man den Druck im Druckbehälter einer Wasserpumpe auffüllt oder das Wasser im Garten abstellt. Wir besitzen einen Langgrasmäher, einen elektrischen Rasenmäher und einen Staubsaugerroboter. In unserem Keller stehen viele Kisten mit vielen Dingen, die wir nicht benutzen und auch nicht brauchen. Oder nur selten brauchen. In meiner Freizeit streiche ich jetzt Fenster, sammle Fallobst oder schneide den Lavendel ums Haus zu. 

Lange Rede, kurzer Sinn: Mein Leben ist plötzlich so erwachsen geworden und so ganz anders als vor 5 Jahren. Als wir mit unserem 100-Liter-Wanderrucksack aus Bali zurück kamen und quasi nichts hatten. Kein Auto, kein Haus, keine Versicherungen, keine Verpflichtungen. In letzter Zeit ertappe ich mich immer häufiger dabei, wie ich davon träume, das alles wieder loszuwerden. Ballast abzuwerfen. Wenn ich jetzt etwas planen könnte, wenn alles nach mir gehen würde (und nicht nach dem Mann, der sowas hasst und nach dem 8-jährigen, der weiterhin seine Schule besuchen möchte), dann würden wir ein Wohnmobil kaufen. Wir würden alles unnötige im Haus loswerden und es vermieten. Und wir würden stattdessen im Wohnmobil leben. Zuerst würden wir Europa und Skandinavien abfahren. Immer da, wo es uns gerade hinzieht. Und dann mal sehen, wie es weiter geht. 

Aber jetzt hör ich auf zu träumen, überweise ein paar Rechnungen und häng die Wäsche auf.

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